Beratung - So lange dauert eine Trächtigkeit
Verschiedene Faktoren beeinflussen den Geburtsbeginn.
Jutta Berger, wissenschaftliche Mitarbeiterin
Den voraussichtlichen Geburtstermin eines Kalbs zu kennen, ist für die Vorbereitung der Kuh aufs Abkalben, das Einstallen von Rindern und die entsprechende Anfütterung mit der Ration der Laktierenden notwendig. Apps wie Smartcow® haben einen Richtwert, den sie zur Berechnung heranziehen. Doch niemand sollte sich 100% auf solche automatisierten Angaben verlassen, denn es gibt eine grosse Spannbreite – und ein Tier persönlich anzuschauen und seine Geburtsanzeichen zu bewerten, lohnt immer!
Der Einfluss der Rasse
«Durchschnittlich 280 Tage» geben Google und ChatGPT zur Antwort, wenn man das Internet nach der Trächtigkeitsdauer von Rindern und Kühen fragt. Dieser angegebene Mittelwert ist ungenau, weil es zig verschiedene Einflussfaktoren gibt, die bestimmen, wann ein Kalb zur Welt kommt. Eine Untersuchung der Universität Zürich* wertete im Jahr 2008 über 3.5 Mio. Daten der TVD aus und stellte auf Schweizer Betrieben eine durchschnittliche Trächtigkeitsdauer von 287 Tagen fest, die je nach Rinderrasse stark variierte. Jerseys hatten die kürzeste Tragezeit (282 Tage), die Fleischrasse Blonde d’Aquitaine mit über 291 Tagen die längste. Das sind neun Tage Differenz! Wie die Internetsuchmaschinen zu ihren durchschnittlich kürzeren Ergebnissen kommen, bleibt daher ihr Geheimnis. Beobachtungen aus dem Embryotransfer zeigen, dass es die Rasse des Kalbs ist, die für die Trächtigkeitsdauer massgeblich ist und weniger die des Muttertiers. Pauschal kann man feststellen, dass leichtere, milchbetonte Kälber weniger lang ausgetragen werden als schwere, grobknochigere.
Das Stresshormon Cortisol
Dies deutet bereits daraufhin, dass das Kalb die Trächtigkeitsdauer bzw. seinen Geburtszeitpunkt bestimmt. Es setzt den Schlüsselreiz für den Geburtsbeginn mit einer Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Dazu muss das Kalb zum einen reif genug sein, dass Hirn und Nebennieren ausreichend Cortisol produzieren können, und zum anderen braucht es vermutlich einen gewissen Stresslevel, damit dieses Cortisol ausgeschüttet wird. Man kann sich vorstellen, dass sowohl der enger werdende Platz in der Gebärmutter als auch eine zunehmende Versorgungsknappheit dem Kalb Stress verursachen. Denn der wachsende Organismus braucht immer mehr Sauerstoff und Nährstoffe, die über den mütterlichen Blutkreislauf zur Verfügung stehen müssen. Anscheinend sind Mastrassen- und Stierkälber hier stressresistenter, sodass sie ihre Geburt erst später in Gang setzen. Man vermutet einen Zusammenhang mit ihrem höheren Testosterongehalt (männliches Sexualhormon). Gesichert ist das nicht.
Brunsthormon mit zentraler Rolle
Gelangt das Cortisol über die Nabelgefässe des Kalbs in die Plazenta, setzt es dort eine Hormonkaskade (s. Grafik) in Gang. Der Progesteronspiegel (Trächtigkeitsschutzhormon) der Mutter sinkt schliesslich, der Östrogen-Gehalt (Brunsthormon) steigt. Der Körper der hochtragenden Kuh verändert sich vor allem durch dieses Hormon – wegen dem sie sich unter anderem auch gerne um brünstige Herdengenossinnen «kümmert». Ist über einige Tage viel Östrogen im Körper, lagert sich Wasser im Gewebe ein, es bilden sich Ödeme und Bänder weichen auf. Das ist nicht nur bei Kühen vor der Geburt so, sondern zum Beispiel auch bei Kühen mit Eierstockzysten. Sie sehen daher äusserlich sehr ähnlich aus. Schliesslich endet diese hormonelle Veränderung in weichen Geburtswegen und Kontraktionen der Gebärmuttermuskulatur, den Wehen.
Stress verkürzt die Trächtigkeit
Stressende Umwelteinflüsse, die zum Beispiel einen Einfluss auf die Herzfrequenz der Kuh haben, lassen ebenfalls die Cortisolwerte von ihr selbst und auch die des Kalbs steigen. Sie können deshalb einen vorzeitigen Geburtsbeginn auslösen. Hitzestress sorgt dafür, dass im Sommer die Trächtigkeitsdauer verglichen mit den anderen Jahreszeiten im Durchschnitt kürzer ist* und es häufiger zu Geburten vor dem 270. Trächtigkeitstag kommt. Auch Tiere, die in der Hochträchtigkeit transportiert oder in eine neue Herde integriert werden, können durch den Stress früher in Geburt kommen. Fälle, in denen schmerzhafte Erkrankungen der Kuh wie zum Beispiel ein Fremdkörper eine Frühgeburt auslösten, sind ebenfalls bekannt.
Begrenzter Platz
Da die Gebärmutter bzw. der Bauchraum bei Rindern enger ist als bei Kühen, haben deren Kälber meist früher Platznot und deshalb kürzere Trächtigkeiten. Auch Zwillinge kommen oft rund eine Woche früher zur Welt, da Platz und Versorgung schneller knapp werden. In einer Studie aus Ostdeutschland**, die 20.000 Geburten in Holsteinherden auswertete, wurden 22.4% der Zwillingsträchtigkeiten vor dem 270. Tag als Frühgeburten geboren.
Zu früh geboren
Vor dem 270. Trächtigkeitstag gelten die Überlebenschancen der Kälber generell als reduziert. Ein altes Lehrbuch von 1993*** bezeichnet sogar 95% aller Kälber, die vor diesem Zeitpunkt geboren werden, als kaum überlebensfähig. Doch gibt es auch immer wieder einzelne Fallberichte, wo Kälber nach rund 250 Tagen und mit 15 Kilogramm Gewicht lebend zur Welt kamen. Um sich gut zu entwickeln, brauchen Frühgeborene allesamt intensivsten und geduldigen Pflegeaufwand.
Je länger, umso riskanter
Die deutsche Studie** zeigt aber auch, dass übertragene Geburten riskant sind, da höhere Geburtsgewichte oft Komplikationen machen. Vor allem Erstkalbende geraten dadurch in Schwierigkeiten, die oft in einem Kälberverlust enden. So starben 29% der Kälber, die von einem (Holstein-)Rind 290–295 Tage ausgetragen wurden. Vor allem in den letzten Tagen der Trächtigkeit legen Kälber, die «über die Zeit gehen», noch einmal stark an Körpermasse zu. Dieses Phänomen kann besonders bei Kälbern, die aus In-Vitro-Produktion stammen, sehr ausgeprägt sein. Die genaue Ursache hierfür ist unbekannt – es werden genetische Faktoren vermutet. Embryotransferexperten empfehlen daher, die Trächtigkeitsdauer bei IVP-Kälbern gut im Auge zu behalten und die Geburt tierärztlich einleiten zu lassen, wenn sie nicht von selbst in Gang kommt. Dabei richtet sich die Empfehlung nach der Rasse des eingesetzten Embryos (HO: 271 Tage ab Transfer, RH: 272 Tage, BS: 281 Tage). Sie kommt dadurch zustande, dass die Embryonen am Tag der Übertragung ungefähr eine Woche alt sind. Deshalb reduziert sich die Zeit im Vergleich zu einer Trächtigkeit nach einer Besamung.
Quellen:
* U. Bleul, 2008, Einfluss der Rasse auf die Gestation und Geburt beim Rind, Tierärztliche Praxis
** I. Steinhöfel et.al., 2012, Analyse der Trächtigkeitsdauer bei Holstein-Friesian, Rekasan-Journal
***J. Richter und R. Götze (1993), Tiergeburtshilfe, Paul Parey Verlag, Berlin